Kleine Reise in meine Welt

Ich bin ein Profi. Auf der Rolltreppe stehe ich rechts, um die Eiligen durchzulassen. Ich nehme die Nebeneingänge, denn dort gibt es weniger Geisterläufer. Ich erkenne schon von weitem die Umfragen-Jobber, die einen abfangen, um Meinungen zu sammeln. Ich kann aus Automaten die kompliziertesten Fahrkartenkombinationen herauskitzeln und ich liebe die Sicherheitshinweise. Ich bin ein Profi. Ein Bahnhofsprofi. Und ich bin gerne am Bahnhof.

Ich mag kleine und große Bahnhöfe, volle Bahnhöfe und leere Bahnhöfe, unterirdische Bahnhöfe und Kopfbahnhöfe. Denn (fast) jeder Bahnhof hat sein Charisma und ich spüre dieses gerne auf. Manche Bahnhöfe sind Einkaufszentren, an denen zufällig auch Züge halten. Andere Wartehallen, an denen ab und an mal ein Zug vorbei kommt. An manchen Bahnhöfen sieht man Menschenmassen, an anderen nur Fahrräder oder Autos auf dem P&R-Parkplatz. Bahnhöfe spiegeln ihre Umgebung. Wenn man etwas über einen Ort wissen möchte, braucht man sich nur seinen Bahnhof anzusehen. Glaskuppel oder Plattenbau? Aufzug oder Treppen? Kneipe oder Coffee Shop? In Dortmund gibt es auf manchen Gleisen Currywurst, in Wiesloch/Walldorf den modernsten Fußgängersteg weit und breit, in Frankfurt kostet die Toilette 70 Cent und in Iserlohn hört die Bahnstrecke einfach auf.

Mein Home-Bahnhof ist Mannheim.

Bahnhof Mannheim von Alessandro Tortora

Kommt man durch den Haupteingang, steht man direkt in der Bahnhofshalle. Vor ein paar Jahren wurde hier die alte Anzeigetafel durch eine digitale Anzeige ersetzt, seitdem begrüßt mich kein wohliges Rauschen mehr. Linkerhand gibt es einen Stand, der alle paar Wochen wechselt – mal gibt es Scheren, Messer und andere Eisenwaren, mal Jesusbrot und getrocknete Apfelscheiben, oder 5 Berliner zum Preis von 4. Rechts ist der Infoschalter der Bahn und ganz vorne in der rechten Ecke steht zur Weihnachtszeit die Holzkrippe. Ab spätestens April steht genau gegenüber der Eiswagen. Kommt man im Sommer abends müde auf Gleis 1 an, läuft man direkt auf ihn zu und kann kaum widerstehen.
Gibt es eigentlich Studien über die Bewegungsströme an Bahnhöfen? Wohin gehen die Menschen, wenn sie noch ein bisschen Zeit haben vor der Abfahrt? Lassen sie sich treiben vom Bäcker zum Zeitungskiosk und zurück? Wo halten sie sich typischerweise auf bevor sie aufs Gleis gehen? Gibt es viele, die wie ich einfach mal so an den Bahnhof fahren? Um einen Kaffee zu trinken und in der Buchhandlung die Neuerscheinungen zu inspizieren oder die eigene kleine Presseschau zu erstellen?
Wenn ich am Bahnhof bin, sehe ich mir die Menschen an. Man kann hier alles und jeden sehen, wenn man nur hinschaut. Schlenderer, Zielstrebige, Schüler und Rentner, Minister und Obdachlose. Ein Konzentrat unserer Gesellschaft. An Bahnhöfen fangen Demonstrationen an, hier treffen Fußballfans auf Wandergruppen und Punks auf Manga-Mädchen, und gibt es ein Problem mit den Zügen, solidarisieren sie sich alle, denn man ist Teil einer Gruppe.

Ich fahre seit ca. 20 Jahren regelmäßig Zug und habe unzählige Stunden an Bahnhöfen verbracht. Ich bin genervt von Umbauarbeiten, schmunzele über Bahnhöfe, in denen der Bäcker wegen Kälte geschlossen hat und ich ärgere mich über Bahnhöfe, die nicht barrierefrei sind. Doch meine schönste Reise begann an einem Bahnhof; der traurigste Abschied und das schönste Wiedersehen in meinem Leben geschahen an einem Bahnhof.

Bahnhof Cecina von Stepahnie Reinecke

Ein Bahnhof kann alles sein – für ein paar Stunden einfach nur ein trockenes Dach über dem Kopf, oder der Ort, an dem man nach einer durchtanzten Nacht morgens um 4 warme Croissants bekommt. Für mich sind Bahnhöfe Orte des Aufbruchs, des Abschieds und des Ankommens. Und wenn ich ab Montag wieder dreimal wöchentlich in den Zug steige, schließt sich ein Kreis und es wird mir egal sein, ob gerade gestreikt wird oder man mir auf der Rolltreppe den Weg versperrt. Denn ich bin ein Profi und ich bin zurück.

Foto von Mannheimer Bahnhof: Alessandro Tortora

1 Kommentar zu Kleine Reise in meine Welt

  1. Hallo Stephanie,
    der Artikel ist super.. Jaja, die Bahnhöfe deiner Welt kennst Du sehr genau und wirst immer wieder neue kennenlernen.Das ist halt der Vorteil, wenn man keine Auto hat. Auch von Verspätungen der Züge läßt Du Dich nicht abhalten, weiter mit der Eisenbahn zu fahren. Dein Opa würde sich sehr darüber freuen.
    Grüßle
    Heidi

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  1. Botschaften : cococucina

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