Stephies Madeleines oder ein kulinarischer Lebenslauf

Ein Butterbrot mit Zucker drauf, das ist eine meiner frühesten kulinarischen Erinnerungen. Meine Mutter machte es uns manchmal, und erst kürzlich habe ich erfahren, dass auch ihre Mutter sie in ihrer Kindheit damit verwöhnte. Die Steigerung des Zuckerbrots war ein Kakaobutterbrot, und es war sowohl eine Kunst, es vorzubereiten, als auch es zu essen. Denn zum einen durfte die Kakaoschicht nur so dick sein, dass der Kakao vollständig an der Butter kleben blieb, und zum anderen durfte man nicht gleichzeitig abbeißen und ausatmen. Die Rolle der Hühnersuppe in meiner Kindheit wurde an dieser Stelle bereits diskutiert, und so ist es nun an der Zeit, einen Lebenslauf zu verfassen, in dem ich die kulinarischen Momente meines Lebens verorte.

Neben Kakao- und Zuckerbroten gibt es ein weiteres Gericht, das ich mit meiner frühen Kindheit verbinde: Schmorgurken. Ich kann mich beim besten Willen nicht an den Geschmack erinnern, doch ich muss es geliebt haben. Ganz im Gegensatz zu meinem Bruder, der noch heute beim Gedanken daran die Nase rümpft. Schmorgurken sind daher nicht nur eine Kindheitserinnerung aus kulinarischer Sicht sondern viel mehr Symbol des kulinarischen Kampfes zwischen kleiner Schwester und großem Bruder!
Die unzähligen Holunderbüsche in unserem Odenwälder Städtchen gaben wohl den Ausschlag für ein weiteres Herz-und-Seelen-Projekt meiner Mutter: Holunderblütensirup! Holunderblütensirup ist ein pappsüßes Getränk, das man nach Belieben mit Wasser mischen kann. Der Geruch von Holunder katapultiert mich immer noch direkt in die frühen 1980er-Jahre. Und wenn es wahr ist, dass die ersten drei Jahre im Leben eines Kindes für immer und ewig den Geschmack prägen, ist es wohl kaum sonderbar, dass ich Süßigkeiten heute kaum widerstehen kann – und wir Stammgäste beim Zahnarzt waren.
Die nächste kulinarische Etappe waren Mohrenkopfbrötchen, für 50 Pfennig am Kiosk im Freibad, der Geschmack des Sommers schlechthin! Das herzhafte Pendant dazu waren in dieser Zeit neben sauren Zungen die Schlabbernudeln, ein einzigartiges (von meiner Mutter erfundenes?) Gericht, bei dem Kleckern und Tropfen nicht nur erlaubt sondern ausdrücklich erwünscht war. Skeptiker würden es vielleicht banal als Spaghetti mit Tomatensoße bezeichnen, doch ich weiß es besser und immerhin war ich dabei!
Ende der 80er, Anfang der 90er öffneten dann die Kinder einer befreundeten Familie unsere Gaumen für den Genuss des geschmolzenen Käses. Die Zubereitung war bestechend einfach: man lege eine Scheibe Käse auf einen Teller und stelle diesen für eine halbe Minute in die Mikrowelle. Ehrlich gesagt eine ziemlich eklige Sache, doch was kümmerten uns damals die Fettaugen eines geschmolzenen 50%-Fett-i.-Tr.-Käses. Schon beim Vorbereiten lief uns das Wasser im Munde zusammen und wir bedauerten zutiefst, dass wir zuhause keine Mikrowelle hatten.

Käse aus der Mikrowelle

Wann genau ich begann, spezielle Eigenkreationen zu essen und zu promoten, weiß ich nicht mehr genau, doch irgendwann beschloss ich wohl aus heiterem Himmel, eine Scheibe Kochschinken auf mein Nutellabrot zu legen. Im Laufe der Jahre habe ich nicht wenige Menschen von dieser besonderen Schlemmerei überzeugt! Es schmeckt übrigens auch in der Kombination Marmelade-Kochschinken…

Ich erinnere mich in Proust’scher Manier an typische Urlaubsgerichte und die damit verbundenen Lebensabschnitte. Meine Madeleines sind:  frischer Fisch und die unterschiedlichsten Lakritzsorten im Norwegen-Urlaub und die berühmten rød pølse in Dänemark; Stockbrot auf Jugendfreizeiten; in Butter angebratene Bananenscheiben in Mexiko sowie Cream tea in Südwestengland (inklusive das Wiederauffrischen dieser Erinnerung im Teesalon). Nach drei Englandaufenthalten führten meine Mutter und ich Mitte der 90er das sonntägliche English Breakfast ein, das meine ganze Jugend prägen sollte: Stundenlang saßen wir sonntagmorgens quatschend bei Toast, Bohnen, Spiegelei, Bacon (für sie, denn ich war nach einem Sommersprachkurs in Nordengland als Vegetarierin zurückgekehrt), Cornflakes, Weetabix (die wir in der Schweiz kauften, weil es sie damals noch gar nicht in Deutschland gab) und schwarzem Tee in der Küche, während ich ihr meine Samstagabenderlebnisse erzählte.

Wenn ich ein Lieblingsgericht habe, kann ich es wochenlang exzessiv essen – z.B. Kirschjoghurt mit Müsli (Abendessen Mitte der 90er), Dosenpilze kalt zum Mittagessen (Ende der 90er), Gazpacho nach original Soul-Kitchen-Rezept (Sommer 2010) oder süße Pfannkuchen (immer). Ein Familienmitglied gestand mir einmal indirekt seine Liebe aufgrund eines von mir gebackenen Pfannkuchens – was gibt es dem hinzuzufügen!? Es ist wie mit Wörtern – wenn man sie neuentdeckt, benutzt man sie immer wieder, dreht sie im Mund herum, kombiniert sie neu, verfeinert sie. So auch Gerichte.
Es gibt Gerichte und Lebensmittel, die ich mit bestimmten Personen verbinde; Kidneybohnen aus der Dose, Sommersalami, Gnocchi alla Sorrentina und Nudeln mit Majoran-Sahne-Soße sind nur ein paar Beispiele dafür. Letzteres kochte ich in der 12. Klasse für ein Date und noch heute denke ich an ihn, wenn ich Majoran esse. Und obwohl die Sache nicht gut ausging, ist Majoran immer noch mein liebstes Kräuterlein.

Ein wichtiger kulinarischer Meilenstein war mein erster Italienaufenthalt 1995.

Tagliatelle mit Kirschtomaten und grünem Spagel

Ein Schüleraustausch führte mich in die Toskana – und an den Tisch einer Familie von passionierten Obst-und Gemüsehändlern. Was mir dort aufgetischt wurde, kann ich kaum in Worte fassen! Am deutlichsten vor Augen steht mir allerdings der gereifte Parmesan, der nach dem Essen mit frischen Birnen kredenzt wurde und meine Geschmacksknospen schlichtweg verzauberte. Die frischen Austern an der Atlantikküste während meines Frankreich-Schüleraustauschs im Jahr davor würde ich jedoch lieber aus meinem Leben streichen.

Nach dem Abi 1999 gab es eine zweifache Zäsur. Erstens zog ich von zuhause aus und musste mich selbst versorgen (als Tochter einer berufstätigen Mutter hatte ich darin jedoch schon etwas Übung und bekam es ganz gut hin), zweitens zog ich ein paar Monate später nach Italien. Was sich schon beim Schüleraustausch angedeutet hatte, wurde Realität. Es eröffneten sich neue kulinarische Welten! Ich schmeckte zum ersten Mal Trüffel und frische Steinpilze. Tomaten und Zitronen von den Hängen des Vesuvs. Neapolitanische Pizza. Toskanische Fischsuppe. Frische, saftige, grüne Feigen. Ich sollte mich nicht mehr von diesen Gaumenfreuden erholen! Alles, was danach kam, war ein Schritt zurück. Ich habe heute noch das Gefühl, Abbitte leisten zu müssen für den gastronomischen Frevel, den ich 2002/2003 in 5 Monaten Irland vollzog: Pommes. Matschiges Kartoffelpürree. Chips zum Hauptgericht.

Dazwischen liegt eine Zeit, in der ich an die vegane Küche herangeführt wurde. Mehrere Jahre in einer WG mit meinem damals vegan lebenden Bruder brachten mir Tofu, Seitan, Sojamilch, Ei-Ersatz, veganen Käse und Spirulina näher. Es mag vielen Leuten vielleicht nicht so scheinen, aber Veganer sind eindeutig Genießer! Und noch dazu äußerst erfinderisch.
Die 2000er-Jahre stehen darüber hinaus für Thai-Essen. Ich entdeckte die Kombination von Kokosmilch, Kartoffeln, Erdnüssen und Ananas und ging während des Studiums regelmäßig zu einem bestimmten Imbiss in der Heidelberger Hauptstraße. Heidelberg ist für mich aber auch Schlemmerrolle vom Bäcker Mantei und Rosinen-Nussbrötchen vom Bäcker Gundel. Ich legte meine Route durch die endloseste Hauptstraße Deutschlands regelmäßig so, dass ich zwangsläufig entweder beim einen oder beim anderen vorbeikam.

Eine Zeit, von der ich mir wilde kulinarische Experimente erwartet hatte – meine Schwangerschaft – blieb gastronomisch-experimentell gesehen leider eher unspektakulär. Von wegen Essiggurken und Nutella! Nach einer kurzen, wenn auch heftigen Pommes-Phase, ernährte ich mich viel zu gesund und aß bis zum Ende der Stillzeit nachts regelmäßig 2-3 Bananenbrote. Dazu literweise Fenchel-Anis-Kümmel-Tee.

fair gehandelte Bananen

Meine große Liebe jedoch, die entdeckte ich im Jahr 2008. Ich erfuhr von meiner Laktoseintoleranz und stellte meine Ernährung um. Weißbrot, Butter, Wurst und Käse wurden erstmal verbannt. An ihre Stelle trat der Haferbrei. Mit einem Wasser-Hafermilch-Verhältnis von 70:30, unterschiedlichen Flocken und Beilagen (Hafer, Dinkel, Soja, Buchweizen, Mandeln, Haselnüsse, Kardamom, Zimt, frische Vanille, geriebener Apfel, Orangenstückchen, Kiwi, Baby-Obstgläschen, bitterer Kakao etc.) ist er bis heute mein Favorit, der tatsächlich zu jeder Tageszeit passt. Im Winter warm, im Sommer kalt genossen ist er seit Jahren ein treuer Begleiter.

Was ich gerne mal probieren würde: Molekularküche.
Was ich garantiert nie essen werde: Schnecken.

Bleibt noch zu sagen: Das Leben ist lang und – Fortsetzung folgt.

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