Dortmund auf St. Pauli – Echte Liebe

Die Magie des Moments

Echte Liebe. Sowas sucht man sich nicht aus. Sowas passiert. Intuitiv. Instinktiv. Von innen nach aussen. Kopflos. Herz an. Es passiert in einem Bruchteil einer Sekunde. Es passiert und du kannst nichts dagegen tun.

Es passiert, wenn du als Sechsjährige auf den Schultern deines Papas inmitten von tausenden Menschen stehst und erwachsenen Männern staunend dabei zusiehst, wie sie euphorisch gelb-schwarze Fahnen schwenken, sich bei fremd klingenden Gesängen ganz und gar nicht verschämt ein Tränchen wegwischen, Namen skandieren, die du noch nie gehört hast, wie sie hüpfen, singen und die kleinen, umherlaufenden Figuren auf dem grünen Rasen anfeuern.

Signal Iduna Park, Westfalenstadion, Dortmund

Es passiert, wenn du als 36jährige beim Lieblingsitaliener einen ganz und gar nicht normalen Mittwoch Abend ausklingen lässt und spürst, dass du hier und jetzt genau richtig bist.

Timing ist Trumpf. Du kannst noch so sehr wissen, dass dein Herz sich gerade auf Glatteis begibt und du keine Schlittschuhe trägst. Die Magie des Moments gewinnt – immer!

Entfernungen: Cocos KLZ zum Dortmunder Westfalenstadion gemessen in der BVB iPhone App

30 Jahre liegen zwischen mir und dem ersten Mal Westfalenstadion. 30 Jahre später liegen außerdem sehr weite 286 km zwischen mir und dieser einen Mannschaft, dieser einen Stadt, die so lange meine Heimat, mein Ruhepunkt war.

30 Jahre später laufe ich abends durch die Strassen meiner Hood, vom Kiez zurück nach Hause. Ich muss nicht auf die Uhr blicken, um zu wissen, es ist bereits kurz vor Mitternacht, es ist dunkel, kalt, leichter Hamburger Nieselregen fällt auf mich herab.

Und eh ich mich wehren kann, lande ich wieder einmal viel zu spät, völlig ungeplant und spontan beim Italiener des Vertrauens in seinem schon längst geschlossenen Restaurant. Nein sagen ist ebenso zwecklos wie der Hinweis auf die nächtliche Uhrzeit und das viel zu frühe Klingeln des Weckers am nächsten Morgen.

Bar Remo auf St. Pauli mit Wein und Ramazotti Gläsern

Also sitze ich dort wie schon unzählige Male zuvor in den vergangenen  Jahren, klassisch ungefragt Ramazotti auf Eis und Vino vor mir, inmitten einer Diskussion über all die wichtigen Dinge des Lebens, Recht und Unrecht, Gentrifizierung, Fussball und natürlich das, was uns alle hier vereint: unsere Liebe zu St. Pauli.

Am Tisch der wunderbare Besitzer und ein paar Stammgäste: rechts von mir der gemütlich wirkende Nachbar, lichtes Haar, Brille, mit freundlichem Blick, entspannt an seinem Feierabendbier nippend; links von mir einer der typischen, langjährigen Kumpels des Chefs, Sorte: charismatisch, laut, charmant, lustig. Mir gegenüber einer der wenigen wirklichen Hamburger, die sich auch streng genommen so betiteln dürfen. Unnahbar, abwartend, wissend, auf den Punkt formulierend. Eisblaue Augen.

Während Jan Delay im Dauer-Loop läuft, wir anstoßen, auf Pauli natürlich und ich mich lachend zurücklehne, kann ich es mit aller Macht des Moments fühlen: Ich bin angekommen. Ich bin zu Hause: St. Pauli ist gelebte, echte Liebe im hohen Norden. Es blendet nicht durch prunkvolle Schönheit, es ist ehrlich, rau und herzlich.

Millerntor auf St. Pauli: Freundschaftsspiel FCSP-BVB 2015

Der Eisblaue blickt mich an. Ein wenig kritisch, unterkühlt, interessiert. Wieso Hamburg? Wieso Pauli?

Und ja, auch ich frage mich das manchmal: Wieso eigentlich? Denn was ist es dieses Zuhause, was macht es aus und wieso gerade hier?
Ich suche nach Worten, versuche zu erklären, was nicht erklärbar ist: Zuhause ist ein Gefühl für mich, verbunden mit Leidenschaft und dem Wissen „you’ll never walk alone“ – egal, wo du bist.
Zuhause sind Lieblingsmenschen, Erfahrungen, Erinnerungen, Gerüche, Musik, Familie. Es ist diese Sekunde, wenn ich am Montag Abend in meinem Badezimmer stehe und die Woge der Euphorie zu mir herüberweht, jedes Mal, wenn der FCSP ein Heimspiel hat und die Fangesänge wie ein sanfte Welle über mich hinweggleiten und ich die Augen schließe und 286 km weiter südlich mit 25.000 Menschen auf der Süd stehe.

Millerntor Stadtion auf St. Pauli

St. Pauli – scheinbar  immer im Wandel, sich ständig neurerfindend, mit dem sozioökonomischen Strukturwandel kämpfend – im guten wie im schlechten, treibend und getrieben zugleich, stets neugierig und auf der Suche, dabei authentisch, gelassen.
Etwas zieht mich magisch an. Vielleicht ist es ist dieses Unperfekte, diese Entspanntheit und Offenheit, das Künstlerische, das Abgerockte, das Schmutzige, das mich oft so an Dortmund erinnert. St. Pauli, mal Streetart und Underground, mal Hochkultur.
Es ist der Hafen, das laute Tröten der Schiffe, das mich in den ersten Nächten in dieser neuen Stadt jedes Mal aufs Neue verwundert aus dem Schlaf gerissen hat. Die Nähe zum Wasser. Dieser Fussballverein mit seinen Fans und seiner gelebten Hingabe und Euphorie. Fast ein wenig so als würde ich in Dortmund sein…

Denn auch wenn 286 km zwischen diesen beiden Orten liegen, hier wie dort wird Fussball gelebt. Die Menschen tragen den Verein mit sich, in sich, nicht nur, wenn er in der oberen Hälfte der Tabelle steht, nicht nur Samstags um  13.00 bzw. 15.30 Uhr, sondern jeden Tag, immer. Echte Liebe, kein Marketing-Slogan der Welt trifft mehr ins Herz, ist passender als diese zwei Worte.

Die Gläser sind schon längst wieder gefüllt. Ich atme aus. Vier Augenpaare blicken mich an, ein paar Sekunden sind alle stumm, dann entfacht erneut eine Diskussion. Mein Gegenüber schüttelt unmerklich den Kopf, lächelt amüsiert, prostet mir zu und sagt nur zwei Worte: „Ihr Zugezogenen…“

Vielleicht hat er ja Recht und es liegt wirklich an meiner romantisch-verklärten zugezogenen Mentalität. Doch als wir schon längst draußen stehen, uns verabschieden, dreht er sich noch mal um. Eisblaue Augen, sanfter jetzt. Und ich weiss, er weiss. Die Magie des Moments gewinnt – immer. Echte Liebe eben…

Blick auf die Südtribune im Signal Iduna Park, Dortmund, Westfalenstadion

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